Benoît Debie (2022)
Das Auge des Spektakels
Menschen hinter der Kamera stehen oft diskret im Hintergrund und bleiben in der Folge weitgehend unbekannt. Benoît Debies spektakuläre Kunst der Kameraführung ist allerdings so unvergesslich und unvergleichlich, dass man sie kennen muss. Seine Gestaltung von Bildern, von Farben, Licht und Bewegung hat ihn weit über seine belgische Heimat hinaus als Meister seines Fachs bekannt gemacht.
Es sind einprägsame und entrückte Bilder, Kompositionen, die traumwandlerisch Fantasien entstehen lassen. Sie entführen in ferne Welten. Ob im Psychothriller, Drama oder Dokumentarfilm: Seine Kamera ist nicht nur agil und beweglich, sondern vor allem sehr empathisch. Sie beleuchtet kleinste emotionale Regungen in Mimik und Gestik. Die Dynamik, die Debie schafft, in vielen der Filme in enger Abstimmung mit der Musik und den Sounds, erzählt etwas von der medialen Gegenwart, beschwört Trends herauf und begleitet sie augenzwinkernd – etwa den Kult um das angeblich Authentische.
Untrennbar ist seine Arbeit mit der des Regisseurs Gaspar Noé verbunden, mit dem er zusammen ein facettenreiches, beeindruckendes Oeuvre geschaffen hat: Angefangen mit Noés zweitem Langfilm ›Irreversibel‹ (2002), einem Alptraum-Trip sondergleichen, war Debie an allen dessen Langspielfilmen beteiligt: vom Drogenrausch in Tokio (›Enter the Void‹, 2009) über ›Love‹ (2015) und ›Climax‹ (2018) bis zur Meditation über das Sterben mit ›Vortex‹ (IFFMH 2021). Die Karriere des belgischen Thriller- und Fantasy-Meisters Fabrice du Welz (›Calvaire‹, ›Vinyan‹ und ›Colt 45‹) hat er maßgeblich mit angekurbelt; Altmeister und IFFMH-Alumni Wim Wenders hat er eine Frischzellenkur verabreicht (›Submergence‹, ›The Beautiful Days of Aranjuez‹, ›Everything Will Be Fine‹). Dabei hat er Stars wie Alicia Vikander, Charlotte Gainsbourg und James McAvoy ins Licht gerückt. Joaquin Phoenix und Jake Gyllenhaal setzte er in Jacques Audiards Meta-Western ›The Sisters Brothers‹ in Szene, zusammen mit Ryan Gosling realisierte er dessen Regiedebüt ›Lost River‹.
Auch bei Harmony Korines ›Spring Breakers‹ und ›The Beach Bum‹ führte er die Kamera; mit Hollywood-Auteur Andrew Dominik fotografierte er den melancholischen Schwarzweiß-Dokumentarfilm ›One More Time with Feeling‹ (2016) über Nick Cave. Musikvideos filmte er etwa für Beyoncé, Rihanna, Jackboys & Travis Scott, John Legend, SebastiAn, Stromae.
Das Besondere an der Kunst des Bildermachens bei Debie ist zweifelsohne der Spaß: Spaß daran, zu beeindrucken, mit der Kamera an Orte und Positionen zu gehen, die ungewohnt und überraschend sind, die uns neue Blickwinkel und Eindrücke erlauben. Die ganz einfach über all das hinausgehen, was wir kennen. Es ist Kino im besten Sinn: ein Spektakel und eine Herausforderung von Sehgewohnheiten, mit der Lust am Exzess und der Offenheit für alles, was Menschen so ausmacht – ihr Begehren, ihre Ängste und ihre Träume. Dass er dabei die Verletzlichkeit der Darsteller und Figuren vor seiner Linse nicht aus den Augen verliert, sondern sie immer wieder behutsam ins Rampenlicht rückt, macht ihn zum Meister eines Humanismus, wie die Welt ihn braucht. Benoît Debie prägt das Kino auf ganz überwältigende Weise. Und wir lieben die Filme, deren Bilder er schafft, so eigen sie sind, nein, weil sie so eigen sind.