Agnès Godard (2023)
Körper als Landschaften
Im Mai 1982 stellte Wim Wenders im Zimmer 666 des Hôtel Martinez an der Croisette eine 16mm-Kamera auf und bat Gäste des 35. Festival de Cannes (darunter Antonioni, Jean-Luc Godard, Fassbinder und Spielberg), über die Zukunft des Kinos zu sprechen. Doch diese war, noch unbemerkt, schon mit im Raum - aber hinter jener Kamera. Denn dort stand die Französin Agnès Godard, die 2023 mit unserer Hommage geehrt wurde.
Godard wurde 1951 in Dun-sur-Auron geboren, einem kleinen Ort südwestlich des Val de Loire. In den 1970er-Jahren studierte sie in Paris und wurde Assistentin des Kameramanns Henri Alekan, mit dem Wenders im Frühjahr 1981 ›Der Stand der Dinge‹ drehte. Bei ›Paris, Texas‹ (1984) assistierte Godard dann Robby Müller und für ›Der Himmel über Berlin‹ (1987) erneut Alekan. Durch eine glückliche Fügung war Wenders’ Regie-Assistentin die Pariserin Claire Denis, die Godard bereits über einen gemeinsamen Freund kannte: Basis für eine der fruchtbarsten Arbeitsbeziehungen des jüngeren französischen Kinos.
Der Serienkiller-Film ›Ich kann nicht schlafen‹ (1994) und das Geschwister-Drama ›Nénette and Boni‹ (1996), beide in kräftige Blau-Rot-Kontraste getaucht, waren die ersten von bisher neun gemeinsamen Filmen. Nach ›Beau travail‹ (1999) und dem Vampirhorror ›Trouble Every Day‹ (2001) kamen die lyrisch-romantischen Dramen ›Friday Night‹ (2002), ›The Intruder‹ (2004) und ›35 Rum‹ (2008), die zwischen urbanen und ländlichen Settings wechselten und dadurch visuell immer wieder neue Wege gingen. Auf einen einheitlichen Stil festlegen lassen sich diese Filme jedenfalls nicht: Einem düsteren Alptraum wie ›Les salauds - Dreckskerle‹ (2013) folgte buchstäblich das Licht, in Form des sonnigeren ›Meine schöne innere Sonne‹ (2017). Als Gruppe jedoch sind die mit Denis gedrehten Filme stärker stilisiert, während Godard einem ebenfalls zentralen Film wie ›Liebe das Leben‹ (1998) von Erick Zonca mit der Handkamera einen radikalen Vérité-Stil verlieh. Kollaborationen mit Regisseurinnen wie Noémie Lvovsky oder Catherine Corsini wiederum gingen Zusammenarbeiten beim Fernsehen voraus.
Einige ihrer wichtigsten Filme drehte Godard mit homosexuellen Regisseuren. Auffällig ist, wie anschaulich gerade in diesen Arbeiten das vielleicht entscheidende Motiv ihres persönlichen Stils wird: der Umgang ihrer Kamera mit dem menschlichen Körper. Sowohl in ›Hinterland‹ (1998) von Jacques Nolot als auch in ›Wild Side‹ (2004) von Sébastien Lifshitz sind die sterbenden Leiber zweier älterer Mütter, die von Angehörigen gewaschen werden, kontrastiert mit den ineinander verschmelzenden Körpern jüngerer Menschen (in einer Bar, beim Tanzen, als Liebende). Und in einem neueren Film wie ›Salvation Army‹ (2013) des im Pariser Exil lebenden, offen schwulen Marokkaners Abdellah Taïa steht eine solche Körperlichkeit natürlich noch einmal unter ganz anderen Vorzeichen.
Gegenwärtig ist eine der wichtigsten Kollaborationen schließlich die mit der Regisseurin Ursula Meier bei den Filmen ›Home‹ (2008), ›Winterdieb‹ (2012) und ›La ligne‹ (2022). Diese stehen nicht zuletzt für einen Übergang von analogem Filmmaterial zu digitalen Bildern – auch dies eine Zukunft des Kinos, an der Agnès Godard weiterhin mitschreibt.