2024 war die schottische Regisseurin Lynne Ramsay Preisträgerin unseres Grand IFFMH Awards. Mit ›Ratcatcher‹, ›We Need to Talk About Kevin‹ und ›A Beautiful Day‹ waren drei Filme aus ihrem Werk beim 73. IFFMH zu erleben. In einer Masterclass gab die renommierte Filmemacherin Einblicke in ihre Arbeit und in ihre kinematografischen Visionen. In einem offenen Fragerunde konnten Besucher*innen anschließend mit der Regisseurin ins Gespräch kommen.
Lynne Ramsay
ausgezeichnet mit dem Grand IFFMH Award 2024
Lynne Ramsay
Die Figuren Lynne Ramsays fühlen sich nie zu Hause. Sie kommen und finden nicht zu sich. Sind rastlos. Was sich überträgt. Auf uns. Die Filme Lynne Ramsays lassen uns keine Ruhe. Wie auch - gleich zu Beginn ertrinkt mal ein Junge (›Ratcatcher‹, 1999), erwacht eine junge Frau neben der Leiche ihres Freundes (›Morvern Callar‹, 2002), sehen wir das Rot der Gewalt zu den bedrohlichen Klängen einer dramatischen Tonspur (›We need to talk about Kevin‹, 2011) oder den nach Luft schnappenden Joe mit einer Plastiktüte über dem Kopf (›A Beautiful Day‹, 2017). Ohne Umschweife konfrontieren ihre Werke uns mit einem Trauma und ziehen uns unvermittelt in ihren Bann.
Bereits in ihren Kurzfilmen ›Small Deaths‹, ›Kill the Day‹ und ›Gasman‹ hat Ramsay einige ihrer zentralen Themen wie Kindheit, Verlust, Erinnerung und Techniken wie das Erzählen durch Andeutungen und Auslassungen entwickelt. Wofür sie direkt mehrere bedeutende Auszeichnungen erhielt. Es folgte mit ›Ratcatcher‹ ihr Langfilmdebüt, das ihr den britischen BAFTA-Award einbrachte. Wie immer bei ihr ist die Hauptfigur mit einer Extremsituation konfrontiert, die zum universellen Wesen menschlichen Daseins hinführt, hier dem Schuldkomplex: Die kindliche Hauptfigur ist mitverantwortlich für das Ertrinken jenes Jungen. ›Morvern Callar‹ handelt vom Umgang der Titelfigur mit ihrer Trauer im Angesicht des Selbstmords eines Partners. Beide Themen - Schuld und Trauer - verschmilzt ›We need to talk about Kevin‹ im Blick der Mutter auf ihren psychopathischen Sohn und dessen Taten. Ihr bislang letzter Film ›A Beautiful Day‹ führt diese universellen Komplexe deutlich in einer Figur zusammen. Der von Joaquin Phoenix verkörperte brutale Auftragskiller Joe ist gleich doppelt traumatisiert: Er ist Opfer und Täter.
Mehr noch als den so extremen wie universellen Geschichten verdankt Lynne Ramsay ihren Ausnahmestatus ihrer unverwechselbaren Ästhetik. Bilder und Komposition überwiegen die Worte. Und so groß oder tragisch das Erzählte auch ist, so wenig pathetisch ist das Erzählen. Es enthält uns nämlich immer wieder wesentliche Informationen vor. Die Kadrierung etwa zeigt nicht selten nur begrenzte Ausschnitte von Personen. Das Ergebnis ist eine große Offenheit für Interpretationen. Dazu gehört auch der Einsatz von beinah emblematischen Detailaufnahmen, die für sich stehen gelassen werden, sei es eine Brotscheibe, über die Ameisen krabbeln, die Narben an Joes Körper oder die generell leitmotivartige Wiederholung bestimmter Gesten und Farben. Und - gerade bei den Kinderdarstellern absolut erstaunliche - Close-ups von Gesichtern und ihres Gefühlsausdrucks. Zahlreiche zusätzliche Facetten der Geschichte werden so erzählt, allerdings indirekt, wir selbst dürfen uns diese erschließen.
Die Leitmotivtechnik verweist auch auf die Wichtigkeit von Musik für die Filme Ramsays. Denn wie kontinuierliche Sequenzen immer wieder durch Musik rhythmisiert werden, bedienen sich andere - ›We need to talk about Kevin‹ bildet hier einen Höhepunkt - einer Kompositionstechnik, bei der die unterschiedlichen Zeitebenen wie musikalische Stimmen miteinander verflochten werden. Zugleich ist diese Technik mit dem Trauma verbunden: Traumatisierte Personen sind nie wirklich da, nie nur im Jetzt, die Gegenwart existiert nur mit der traumatischen Vergangenheit bzw. der ständigen Erinnerung an sie. Es ist diese stete Anwesenheit des Traumas, die in ›A Beautiful Day‹ nicht so sehr kompositorisch, sondern über den gebeugten, von Narben übersäten Körper Joes erzählt wird.
Die Figuren Lynne Ramsays fühlen sich nie zu Hause. Zugleich erlauben uns ihre Filme nie ganz in ihrer Welt anzukommen. Ihr nicht selten schwarzer Humor, ihre Ironie oder auch mal eine Maus, die am Ballon ins Weltall entschwebt, schaffen Distanz. Wie die Kompositionstechniken führt uns diese Distanz zum Geschehen in die Psyche der Traumatisierten und ihre Distanz zur Welt. Die filmische Poesie des Traumas wird gewissermaßen zum Trauma der Poesie. Und das obwohl die erzählten Gewaltakte selbst fast komplett ausgespart bleiben.
Lynne Ramsays wunderbare Filme lassen uns deshalb auch im Nachhinein keine Ruhe, nie mehr, sie brennen sich uns ein. Und das ist gut so. Denn was wären wir ohne sie?